„In einzelnen Staubkörnern sehe ich das Universum“

"Sho" for violin (2018)  
Commissioned by the International Max Rostal Competition Berlin  

„In einzelnen Staubkörnern sehe ich das Universum“ Onkō Jiun  

Linie und Form und leerer Raum sind die sichtbaren Elemente des sho, der orientalischen Schriftkunst. Ausdruck der inneren Wahrheit, Verschmelzung mit den Kräften der Natur, Erkenntnis der Lebenswahrheit aber leiten den Menschen  bei der Führung des Pinsels über das Papier. Das Schwarz der Tusche und das Weiß des Blattes haben die Kraft, die Fülle des Universums zum Leuchten zu bringen.  
Die metaphorisch-assoziative Denkweise, die sich in der japanischen Kunst unter dem Einfluß des Zen-Buddhismus herausgebildet hat, der Gedanke, die Erscheinungen zugleich sinnlich wahrnehmbar und von Geheimnissen umhüllt darzustellen, inspirierte mich zu einer ähnlichen musikalischen Gestaltung. Die Vorgaben des sho, lebendige Linie, Kontrast, Einfachheit bei innerer Komplexität, Offenheit und Fluß haben mich bei der Komposition des Stückes geleitet,  das der Phantasie des Zuhörers Raum geben und ihn in den Prozeß der klanglichen Wandlungen hineinziehen soll.  
Formal folgt das Stück den drei Stationen des sho, dem Erwachen der Linie (kihitsu), der Verwandlung und der Reise (sôhitsu) und dem Entschwinden der Form in die Leere, aus der heraus alles entsteht (shûhitsu).  
Selbstverständlich kann die Auseinandersetzung mit fernöstlicher Philosophie und Kunst für den westlichen Künstler nur Anstoß und Inspirationsquelle sein. Die Musik bleibt persönlicher Ausdruck, Exotismus wird nicht betrieben. Für mich ist es die Annäherung an eine faszinierende Idee der Erkenntnis universaler Kräfte, in der Andeutung und Offenheit den Vorrang haben vor Dialektik und mathematischer Ordnung.  

Thorsten Encke 2018