Auf Einladung der TheaterGemeinde Hamburg holt Komponist und Dirigent Thorsten Encke mit seinem Ensemble musica assoluta die Klänge des Ozeans in die Elbphilharmonie.
Das Interview führte Sören Ingwersen
S.I.: Herr Encke, am 29. Oktober 24 werden Sie zusammen mit musica assoluta Ihr interdisziplinäres Konzertprogramm „The Ocean is a Noisy Place“ im Kleinen Saal der Elbphilharmonie präsentieren. Wie kam dieses Projekt zustande?
T.E. Als ich vor zwei Jahren als composer-in-residence am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst Fellow war, lernte ich dort die Meeresbiologin Stephanie Plön kennen und bin so auf das Thema „Akustik des Meeres“ gestoßen. Der Ozean bietet sehr viele Schallerlebnisse. Die Walgesänge kennen wir schon lange. Aber auch Fische und Krustentiere bis hin zu Tintenfischen produzieren Geräusche. Da man spätestens in 20 Metern Wassertiefe nichts mehr sieht, sind diese Tiere für ihre Kommunikation, ihre Nahrungssuche und ihr Geschlechtsverhalten auf akustische Signale angewiesen. Entstanden ist zunächst ein Stück mit dem Titel „It Is Noisy in the Ocean“, in dem ich ganz verschiedene Geräusche aus dem Meer als Vorlage für eine innovative Komposition genutzt habe.
S.I.: Wie sind Sie dabei vorgegangen?
T.E.: Zunächst sind die unterschiedlichen Motive in den vier Abschnitten des Stückes tatsächlich auf einzelne Fisch-, Wal-, Delfinarten und Krustentiere zurückzuführen. Ich hatte einen unglaublichen Spaß, diese Geräusche, die ich mir jeweils hundert Mal angehört und analysiert habe, mit teilweise ungewöhnlichen Spieltechniken auf das Instrumentarium zu übertragen. Aber natürlich gehorcht das Stück, von dem es drei verschiedene Versionen gibt, vor allem musikalischen Gesetzmäßigkeiten. Die erste Version ist rein instrumental für fünf Bläser und fünf Streichinstrumente. Eine weitere Version fügt dieser Besetzung vier im Raum verteilte Schlagzeuger hinzu, die improvisatorisch sehr passende, mystische Geräusche dazugegeben. Die dritte Version, die in Hamburg gespielt wird, hat eine zusätzliche elektronische Tonspur mit der weiteren Ebene der menschengemachten Geräusche, die z.B. durch Schiffsschrauben, U-Boot-Sonare, Unterwasserexplosionen, Baustellen und Windparks entstehen.
S.I.: Schallwellen von Windrädern breiten sich auch im Meer aus?
T.E.: Ja, denn im Wasser werden die Schallwellen viel schneller übertragen als in der Luft. Aber für die Tierwelt bedrohlicher sind die Baustellen, die eine massive Schallbelastung unter Wasser generieren. Tiere ergreifen davor regelrecht die Flucht oder verfallen in eine Starre und erleiden offensichtlich auch Gehörschäden. Diese menschengemachten Geräusche, die in den letzten zehn Jahren exponentiell zugenommen haben, stellen eine zunehmende Bedrohung für die Tierwelt dar, die sich akustisch im Meer orientieren muss. Das ist so, als würden wir Menschen in der Disco leben und müssten uns dort verständigen.
S.I.: Sie sprachen eben von einer mystischen Klangebene, die Sie den Meeresgeräuschen hinzugefügt haben. Das erinnert an Olivier Messiaen, dessen Musik tief in der religiösen Mystik wurzelt und der sehr häufig mit Vogelstimmen gearbeitet hat. Gibt es eine Verbindung zwischen Messiaen und Ihrer Musik?
T..: Ich habe einen großen Draht zur Musik von Messiaen. Der religiöse Hintergrund ist mir aber etwas fremd. Ich bin mehr an dem Natürlichen, Kreatürlichen interessiert als an einer symbolischen Überhöhung. Wobei jede Art von Musik eine Art Mystizismus, etwas Geheimnisvolles, in sich tragen muss, um überhaupt beim Zuhörer anzukommen. Ich glaube, es ist der große Vorzug von Musik, dass sie diese Ebene der nonverbalen Überhöhung hat, man kann auch sagen: die Ahnung des „Göttlichen“ hervorrufen kann.
S.I.: Aber auch Ahnungen des Physikalischen. In der Wissenschaft gibt es schon lange Versuche, mittels sogenannter Sonifikation komplexe Daten – zum Beispiel im meteorologischen Bereich – in Klängen darzustellen, um sie mit unserer Wahrnehmung leichter erfassen und bewerten zu können. Zielt Ihre Musik auch in diese Richtung?
T.E.: Das beschreiben Sie ganz richtig. Es ist mir als Komponist unglaublich wichtig, diese sinnlich-emotionale Ebene zu nutzen, um auf die Phänomene des Lebens aufmerksam zu machen. Ich glaube, damit kann man die Menschen leichter erreichen als ausschließlich durch rein verstandesmäßige Fakten. Hier kann die Kunst sehr viel bewirken.
S.I.: Sie dirigieren in der Elbphilharmonie nicht nur ihre eigenen Werke, sondern auch Musik von Claude Debussy, etwa die berühmte Tondichtung „La Mer“ in einer eigenen Bearbeitung. Die Anknüpfung an die Tradition ist ihnen offenbar wichtig ...
T.E.: Ich habe mich immer begeistern können für die Werke der Vergangenheit. Bei früheren Meereskompositionen steht meistens der Mensch, der z.B. das Meer bezwingt, im Mittelpunkt. Debussy ist vielleicht der erste Komponist, der das Phänomen Ozean in seinem Stück „La Mer“ als Eigenphänomen betrachtet. Der Mensch ist bei ihm Teil eines großen „Wir“, das aus der belebten und unbelebten Natur besteht.
S.I.: In Ihrem Programm tritt auch die Cellistin Tanja Tetzlaff auf, für deren Filmprojekt „Suiten für eine verwundete Welt“ Sie eine Musik als gegenwärtige Antwort auf Bachs Cello-Suiten geschrieben haben ...
T.E.: Mit Tanja Tetzlaff verbindet mich eine sehr lange Freundschaft. Für ihre Einspielung von Bachs Suiten auf CD habe ich die Stücke „Cracks“ und „Clouds“ komponiert, in die ich als Brücke stark transformierte Motive von Bach eingearbeitet habe. So entstehen Fenster, durch die man – ausgehend von dieser wunderschönen Musik der Vergangenheit – in unsere heutige Welt blickt. Für den später entstandenen Film habe ich die Stücke zur viersätzigen Suite „Black Ice“ für Violoncello und 6-Kanal-Tape erweitert. Titel und Idee gehen zurück auf ein National-Geographic-Video über einen schwedischen Eisläufer, der auf dem sogenannten Schwarzeis fährt. Das ist ein Eis, was scheinbar schwarz ist, weil es vollkommen transparent, spiegelglatt und gerade dick genug ist, dass es einen Eisläufer tragen kann, sofern er sich schnell genug vorwärtsbewegt. Bei dieser hochriskanten Fahrt bilden sich – begleitet von spektakulären akustischen Phänomenen – kilometerlange Risse im Eis. Diese viersätzige Version von „Black Ice“ mit Sounds im Raum werden wir im Konzert hören.
S.I.: Für das Konzert arbeiten Sie mit der Videokünstlerin cylixe zusammen ...
T.E.: Sie macht ein sogenanntes VJ Mapping, also Videojockey Mapping und mischt im Konzert verschiedene Clips spontan zusammen. Als Projektionsflächen nutzt sie die Wände des Konzertsaals, um auch visuell eine Anmutung von der Tiefe des Ozeans zu geben.
S.I.: Komplettiert wird das Konzert durch einen Vortrag ...
T.E.: Wir wollen das Thema nicht nur atmosphärisch aufgreifen, sondern auch wissenschaftliche Fakten bieten und sind begeistert, dass Antje Boetius, die ja eine der renommiertesten Meeresbiologinnen in Deutschland ist, zugesagt hat. Sie hat erst kürzlich im Nordpolarmeer in 4000 Metern Tiefe geforscht und wird Interessantes zu berichten haben, was die Akustik in den Tiefen des Ozeans betrifft. In Hamburg bauen wir den Vortrag erstmals direkt in das Programm ein und präsentieren ihn sozusagen als Teil der künstlerischen Darbietung. Wir wollen mal schauen, wie das zusammengeht.