Nachrichten aus dem Haus der Musik

CD Thorsten Encke. A Portrait (2017)

Strukturelle Erwägungen zu Beginn einer künstlerischen Arbeit können die Reibfläche sein, an der sich die Inspiration entzündet. Gleich einem Architekten rollen wir eine gezeichnete Konstruktion aus, wir skizzieren eine Tonfolge und zimmern ein Gerüst von Intervallbeziehungen und Ableitungen, wir möblieren den Innenraum sorgfältig, indem wir Motive miteinander in Beziehung setzen und ihnen somit eine dramaturgische Funktion zuordnen. Dies alles ist notwendig. Und doch führt uns die Eingebung auf Abwege, Ungeplantes drängt sich auf, die Reibfläche verliert mit jeder geglückten Zündung an Wirksamkeit. Das Werk gewinnt Eigenleben, will über sich hinauswachsen. Der Künstler muss nachgeben, spüren wohin die Reise geht. Oft ist es ein Ringen zwischen Plan und Möglichkeit, die heikle Aufgabe, im Gestrüpp die richtige Abzweigung zu finden. Offenheit gegenüber den Möglichkeiten, das Vertrauen in die Folgerichtigkeit der Erfindung muss erlangt werden. Dieses ist Eingebung.

Immer ist eine Balance herzustellen zwischen der Konstruktion und der Erfindung. Wobei der Erfindung der Vorzug zu geben ist vor der Konstruktion, die sich im besten Fall als starker Zusammenhalt im Verborgenen befindet. Die Ausstrahlung gehört der Erfindung, ihr gebührt unser Staunen. Allzu sichtbare Konstruktion ist das Skelett am Haken anatomischer Neugier.

„Musik ist Leben, ist Bewegung, Rhythmus, Gestalt.“ Dies sagte mir eine Zuhörerin nach einem Konzert - ich stimme zu. Der Hörer darf erwarten, dass er dieses von einem musikalischen Werk bekommt: Bewegung, Rhythmus und vor allem: Gestalt. Sie tritt vor ihn hin und bietet sich zum Dialog. Der Hörer entscheidet, ob er in den Dialog eintritt, wie er die Gestalt betrachtet, ob er sich berühren lässt. Indem er sich darauf einlässt schafft er selbst das Werk. In ihm und nur für ihn allein entsteht eine Ahnung des großen Gefüges, das wir Leben nennen, ein Schimmer der Ewigkeit. Wenn die Musik dieses im Menschen anregt ist ihr schönster Zweck erfüllt.

Als Komponist verbringe ich viele Stunden allein am Schreibtisch in akribischer Ausarbeitung der Partitur. Die musikalischen Ideen entstehen vorher im Kopf. Die Notenschrift reduziert das vorgestellte Panorama an Klängen und zwingt mich, die Vision klar zu fassen, keine Unschärfe zuzulassen. Ihre Begrenztheit macht erfindungsreich. Letztlich ist es das Problem der Notation, das uns zu neuem Ausdruck führt.

Und mein persönliches momentanes Credo? Vielleicht: Experimentierfreudig in Inhalt und Aussage, klar in der Sprache.

Oder um es mit Rilke zu sagen: "Nichts hindert mich, alles unerschöpflich und unverbraucht zu finden: wovon sollte je Kunst ausgehen, wenn nicht von dieser Freude unendlichen Anbeginns?"

"Préludes" für Ensemble (2012)

"Préludes" schrieb ich als Composer in Residence für das renommiert Festival "Spannungen: Musik im Kraftwerk Heimbach". Im Gespräch mit dem künstlerischen Leiter Lars Vogt im Vorfeld des Festivals entstand die Idee, ein Konzertprogramm mit musikalischen Miniaturen zu konzipieren. Also komponierte ich fünf kürzere Präludien für ein gemischtes Ensemble, die zwar jedes für sich den Charakter des Vorläufigen wahren, als zusammengefasstes Werk aber eine klare Dramaturgie verfolgen. Das erste und letzte Prélude sind eine lebhafte, recht heftige Auseinandersetzung aller acht Instrumente. Die mittleren drei Préludes hingegen stellen jeweils ein Soloinstrument, bzw. eine Instrumentengruppe in den Vordergrund - Prélude II die Klarinette, Prélude III das Streichtrio und Prélude IV den Kontrabass mit dem Schlagzeug. Motivische Korrespondenzen spinnen ein feines Netz über die Gesamtanlage, und da alle Préludes attacca ineinander übergehen, ist jedes Stück Vorbereitung zum nächsten mit einem ziemlich deutlichen Schlusspunkt ganz am Ende des Werks.

Wanderer“ Fantasie für Orchester über Motive aus Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ (2013)

Die „Wanderer“ - Fantasie ist ein Auftragswerk des Richard Wagner-Verband Hannover e.V. zum 200. Geburtstag Richard Wagners.

Der Wanderer, Wotan, der Gott, mit seinem starken Bezug zum Unterbewusstsein - hätte er in seinem Streben nach Größe nicht weise handeln sollen? Doch er verstrickt sich heillos in ein Netz aus Intrigen, Lüge und Verrat. Nachdem er sein Lieblingskind Brünnhilde verstoßen hat, am Beginn seiner langen Wanderschaft, vielleicht überkommt es ihn da in einer großen Vision: was er alles hatte und wie er es vermasselt hat. Hier setzt mein Stück an mit Ahnungen, Anklängen, Erinnerungsfetzen. Als musikalisch - situative Auseinandersetzung mit Wagners Musik spinnt es den Faden fort und entführt für einen Moment in die Welt des Traums, die ihre ganze Macht entfaltet bis hin zum horror vacui, dem Erschrecken vor dem Nichts. Auf dem Höhepunkt des Stückes mündet das musikalische Geschehen in das sogenannte Fronmotiv, bei Wagner Symbol für die drückende Last des Zwanges - hierüber zerbricht die Ordnung. Aus den Trümmern erklingt sehr fern das Motiv der goldenen Äpfel; sie verhalfen den Göttern zu ewiger Jugend. Was bleibt ist Erinnerung. Oder wie Wagner nach Beendigung des „Ring“ schreibt: „Es gibt keinen Schluss für die Musik“.
Jedoch war die Vorstellung einer programmatischen Ausgangssituation für mich vor allem Initialzündung und Anstoß zu einer durch und durch musikalischen Konzeption, die ihre eigene Sprache spricht und sich nach eigenen Gesetzen entwickelt. Wagners Motive sind hier wie altehrwürdiges Material in einer neuen Konstruktion. Sie haben durchaus strukturelle Bedeutung, auch wenn sie in den ersten beiden Abschnitten des Stückes eher im Verborgenen agieren und erst auf der Schwelle zum letzten Abschnitt, der eine Reminiszenz darstellt, mit Macht in den Vordergrund streben.

"Hommage" für 14 Spieler (2014)

"First of all continue, then beginn" - dieser Satz des amerikanischen Philosophen William James steht als Motto am Anfang der Partitur. "Hommage" ist somit nicht ein Gedenken an eine bestimmte Persönlichkeit, sondern eine Verbeugung vor der unendlich reichen Geschichte der Musik, als deren Gast man sich fühlt. Es geht um Zeit, auch um die subjektive Empfindung von Zeit, hörbar im Stück durch das Klicken und Klacken unterschiedlicher mechanischer Zeitebenen, die sich überlagern. Später nimmt die Komposition an Fahrt auf und mündet in ein gewaltiges crescendo. Danach gibt es nur noch Stillstand, Fragmente, Klangfetzen.

"Echoes" for violin, viola and orchestra (2016)

Schimmer der Ewigkeit, Echo des Paradieses – mit „Echoes“ wollte ich den Erscheinungen der Natur die Ehre erweisen. Der Wald, das Meer, die Tierwelt, die Stimme des Menschen als deren Teil (Soloinstrumente). Tastend sucht sie ihre Bestimmung, beginnt zaghaft zu singen, streitet, behauptet sich selbstherrlich und besinnt sich schließlich: es ist die Geburt des Gesangs als dankbare Daseinsäußerung und Widerhall der göttlichen Natur.

"Un beau brin de fille" für Kammerorchester (2011)

2011 erteilten mir vier befreundete Musiker aus Bremen den Auftrag, für das von Ihnen gegründete Kammerorchester "Sinfonia Concertante" ein Stück zu schreiben, das zu einem ganz besonderen Anlass uraufgeführt werden sollte. Der Kunstverein Bremen unterstützte den Ankauf des Bildes "Bretonisches Mädchen" des französischen Mahlers Paul Sérusier, das in der Sammlung der Kunsthalle Bremen fehlte, mit einem Benefizkonzert. Ich sollte etwas zum Bild Passendes schreiben. Ich schaute mir das Gemälde an; es zeigt ein bretonisches Bauernmädchen in sonntäglicher Tracht, das offensichtlich dem Maler einige Zeit Modell zu sitzen hatte. Ich glaubte Züge von Trotz im Gesicht des Mädchens zu erkennen. Da ich selbst zwei Töchter habe kam mir die Idee, ein Stück zu schreiben, das einen Blick hinter die Fassade des Gesichts wagt, das die Träume, die Impulsivität, den Eigensinn einer komplexen Jungmädchenpsyche musikalisch umschreibt. Da wird auch mal eine Tür im Zorn zugeschlagen. Von versonnen zarten Klängen bis hin zu wildem Aufbegehren beschreibt das Stück eine Vielzahl von Gefühlszuständen.

"Nyx" für großes Orchester (2011)

Die Nacht ist ein interessanter Topos für mich. Sie umfängt den Menschen mit mächtigen Armen, in denen das mühsam zusammengezimmerte Gerüst der Persönlichkeit in sich zusammenfällt. Der Mensch wird auf sein Innerstes geworfen, seine verborgensten Sehnsüchte, Verzweiflungen; die Regeln des Tages aus Vernunft und Organisation haben hier keine Gültigkeit. Aber die Nacht kennt auch die Raserei, den tödlichen Drang nach Selbstauflösung.
Es sind diese beiden Seiten, die der mythologische Begriff "Nyx", für mich, umschreibt:
Hypnos, der Schlaf, der uns in die entlegensten Winkel menschlichen Fühlens und Wollens entführt. Thanatos, der Tod, der rauschhaft die Sehnsucht des Verstandes nach Auflösung im Kosmos betreibt.
Diesem Gedanken folgend war der Begriff "Nyx" für mich Inspirationsquelle für ein zweiteilig angelegtes Werk für großes Orchester, das im ersten Teil Klangmöglichkeiten des Schwebens und der Unsicherheit auslotet, um im zweiten, mittels virtuoser Orchestersprache, der Zielgerichtetheit einer rauschhaften Entwicklung zu verfallen.
Das Stück wurde für die Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und ihren Chefdirigenten Paavo Järvi geschrieben. Ich verdanke diesem großartigen Orchester, dem ich als Cellist seit langem verbunden bin, die allerschönsten musikalischen und menschlichen Erlebnisse.

Thorsten Encke, 2017