Claude Debussy, Arthur Rimbaud, Gottfried Benn - oder die Botschaften der Vergangenheit

Gedanken zu den Préludes von Debussy und meinen Aprèsludes

Die Préludes für Klavier von Claude Debussy begleiten mich seit meiner Jugend. Mit ihnen verbinde ich den nie versiegenden Einfluss von Musik auf die eigene Fantasie, den sanften Druck auf die Eingebung, die stete Aufforderung zur Erschaffung eigener Klangwelten. Das Auflegen einer Platte, das Klicken des Tonarms, das Knistern der Nadel auf dem Vinyl - dieses war der Einstieg in die Welt der Fantasie. Der leuchtende Klang des Klaviers, die subtilen agogischen Nuancen, die Illusion von Farben und Charakteren taten ihr übriges und setzten ungeahnte Bilder und Gefühle frei. Bilder, die aus der Vergangenheit herüberleuchteten und eine Präsenz entwickelten, als wäre man ein Teil von ihnen. „Die Musik“, schreibt Debussy, „ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben.“

Später lernte ich auch Debussys Ansichten über Musik und Kunst kennen. Ich las seine mit Ironie gespickten Aufsätze und Kritiken mit Vergnügen. Monsieur Croche, sein alter ego, über den er schreibt, „Er reizte meine Neugier sogleich durch die besondere Art, wie er die Musik sah. Er sprach von einer Orchesterpartitur wie von einem Bild und verwendete dabei fast nie Fachausdrücke, sondern zeigte eine ungewöhnliche Wortwahl von einer matten und etwas abgebrauchten Eleganz, die den Klang alter Münzen an sich zu haben schien.“, - dieser Monsieur Croche propagiert eine Musik, die, frei von verknöcherten Formeln, wie absichtslos daherkommt, einzigartig, eigen und unverwechselbar. „Man muss die Zucht in der Freiheit suchen und nicht in den Formeln einer morschen Philosophie, die nur mehr für Schwächlinge taugt. Hören Sie auf keines Menschen Rat, sondern auf den Wind, der vorüberweht und uns die Geschichte der Welt erzählt.“ „Mein Herr, ich mag die Spezialisten nicht. Sich spezialisieren heißt für mich: sein Weltbild einengen.“

Dieses sprach mir aus der Seele, mir, der ich bewusst kein Kompositionsstudium aufgenommen hatte, weil mir der ideologische, von Verboten geprägte Zirkel der sogenannten „Neuen Musik“ nicht behagte. Ich wollte meine eigenen Ideen entwickeln, abseits eines fast schon hermetischen Betriebs, wollte über das Studium der großen Komponisten zu meiner eigenen Sprache gelangen, wollte dem Wind nachlauschen und mich auf die „Suche nach einer unaufhörlich sich erneuernden Welt der Gefühle und Formen“ (Croche) machen.

Debussy war hierbei Einflüsterer und Inspirationsquelle zugleich. Er bestärkte mich in meinem Trotz und bot zugleich den Blick durchs Schlüsselloch in den abenteuerlichen Garten eigener Erfindung.

Ihm vor allem möchte ich mit der Komposition der Aprèludes die Ehre erweisen und seinen Préludes einen heutigen Kommentar hinzufügen. Dabei wollte ich die von Debussy vorgegebene Form einer lockeren Aufeinanderfolge unterschiedlicher Charakterstücke beibehalten. Die poetischen Titel sind lediglich assoziativ mit dem musikalischen Geschehen verbunden; der Zuhörer kann sich von ihnen anstoßen lassen oder aber auch ganz andere Bilder und Stimmungen zur Musik entwickeln. Programmmusik ist es nicht.

Aber es gab noch andere Einflüsterer in der Jugend, allen voran Gottfried Benn, den ich in einer Jazz und Lyrik Einspielung kennenlernte. Die morbide Eleganz seiner Gedichte, der „coole“, leicht resignative Tonfall, setzten in dem jungen Menschen, der ich damals war, ungeahnte Verbindungen zur Zeitlichkeit des Lebens und zur Vergänglichkeit der Erscheinungen frei. Stete Verwandlung schien das dem Leben eingeschriebene Gesetz zu sein; wie anders umgehen mit der Unsicherheit als mit Gestaltung? Andere hatten es vorgelebt.

So auch Arthur Rimbaud, das jugendliche Genie, dessen Gedichte aus einer überhitzten Fantasie in die Welt geradezu hineinzuplatzen schienen. Wie im Delirium schuf er Bilder und Metaphern für ein gesteigertes Empfinden, für ein Leben, unter dessen scheinbar geordneter Oberfläche es kocht und brodelt.

„Ein leichter Korken, tanzt ich dahin auf steiler Welle:
die erste Meerfahrt haben die Stürme benedeit.
Von solcher Welle heißt es, sie töte und sie fälle -
Die albernen Laternen der Häfen blieben weit!“

Aufbruch, Abenteuer, Abschied - aus diesem Dreiklang, angeschlagen von drei sehr unterschiedlichen, aber in ihrem Einzelgängertum auch wieder ähnlichen Künstlern, schien mir damals ein ganzes Universum gestalterischer Möglichkeiten und künstlerischer Erfahrungen zu erwachsen. Insofern sind die Aprèsludes auch eine Hommage an jugendliche Aufnahmebereitschaft und deren Vorbilder.

Die Aprèsludes sind aber auch reine Klaviermusik, die, wie ich in meinem Skizzenbuch notierte „vom Klavier ausgehend zum Klavier hinführen“. Das bedeutete für mich eine eingehende Beschäftigung mit klaviertechnischen Möglichkeiten und Finessen, das Studium besonders „pianistischer“ Komponisten wie Schumann, Liszt, Debussy, Ravel, Bartók. Ich entschied mich, auf Effekte zu verzichten, die ausserhalb der Tastatur und der Pedale angesiedelt sind, wie z.B. Präparierungen der Saiten, Schlagen gegen den Korpus, Verwenden von Schlägeln und sonstigem Zubehör. Sämtliche klanglichen Eigenheiten sollten ausschließlich durch den Klaviersatz selbst entstehen; durch ausgeklügelte Kombinatorik und Grifftechnik einerseits, durch Freiräume für die klangliche Fantasie des Pianisten andererseits. Einzig die Verwendung des mittleren Pedals, mit dem man einen vorher gegriffenen Klang halten und nachschwingen lassen kann, ist als Technik in jedem Stück vorhanden und bildet ein durchgehendes Experimentierfeld der „Echoklänge“, die dem Klaviersatz eine spezielle, leuchtende Räumlichkeit verleihen.

„D’autre part…“ („Andrerseits…“) - das Präludium unter den Post-Präludien, ritmico e con fantasia. Es spannt zu Beginn einen wiederkehrenden Klang signalartig auf. Der Fortgang ist durch ständige Steigerung des Tempos gekennzeichnet. Der ganze Umfang der Tastatur vom tiefsten bis zum höchsten Ton wird verwendet. Der Charakter ist lebendig, vorwärtsdrängend, freudig-virtuos, mit gelegentlichen nachdenklichen Einschüben.

„Ombres - Tristesse“ („Schatten - Eintönigkeit“) - eine größtenteils leise Improvisation, liberamente e esitando, die das Seufzermotiv - den abwärtsführenden Halbtonschritt - variiert. Manchmal bricht das Licht mit gleißenden Reflexen in die Schattenwelt ein.
Das Stück ist auch eine Hommage an Gottfried Benn, dessen letzter Gedichtband den Titel "Aprèslude" trägt:

"Tristesse"
"Die Schatten wandeln nicht nur in den Hainen,
davor die Asphodelenwiese liegt,
sie wandeln unter uns und schon in deinen
Umarmungen, wenn noch der Traum dich wiegt."

Die beiden nächsten Aprèsludes „Un beau brin de fille“ und „Monsieur Croche - Doublecroche“ sind die einzigen Stücke der Serie, die sich in direkter Weise auf Debussy beziehen, nicht nur im Titel, sondern auch in Form zweier Zitate aus den Préludes. Diese allerdings sind nicht mehr als eine augenzwinkernde Anspielung.

„Un beau brin de fille“ - man könnte es mit: "Ein hübsches Ding" übersetzen - spielt natürlich auf "…La fille aux cheveux de lin" an, erweitert das liebliche Prélude jedoch in eine parodistische Charakterstudie der jung-Mädchen-Psyche, in der es auch mal zu ziemlich störrischen Ausbrüchen kommt. Da ich selbst zwei Töchter habe, sind mir die wechselhaften Gefühlstemperaturen dieser zauberhaften Wesen durchaus nicht fremd.

"Monsieur Croche - Doublechroche" ist mit einer perpetuierenden Bewegung von 16tel Noten unterlegt (im Französischen: Doublecroche). Der parodistische Redefluss bewegt sich zwischen trockenem Kommentar, sarkastischen Spitzen und irritierender Nachdenklichkeit - "…nach einem langen Schweigen, während dessen der Rauch seiner Zigarre das einzig Lebendige an ihm schien… Er sah so aus, als ob er seltsame Zerrbilder darin erblickte, vielleicht auch gewagte Systeme."

In "Cloches" ("Glocken") spielt ein Motiv aufwärtsführender Quinten eine Rolle, das ich einmal "die Todesglocken" habe nennen hören. Es ist öfter in der Musik des 20./21. Jahrhunderts zu finden, vielleicht weil es einen Tonraum aufspannt, in dem die Grundtöne eine funktionelle Umdeutung erfahren, so dass zwar der Eindruck einer gewissen Tonalität entsteht, diese aber ihren sicheren Boden verliert und ins Schweben gerät.
Im Stück kommt das Geläut wie aus einer anderen Zeit (lontano), oder klingt mitunter im leisen Rauschen des Windes entfernt mit an.

Das letzte Stück der Serie "Bateau - ivre" ("Schiff - (be)trunken") ist eine virtuose Studie im Stil einer Toccata, in der alle Fesseln musikalischer Konventionen Stück für Stück über Bord gehen. Das Geschehen steigert sich bis zur Anarchie ganz im Sinne des Gedichts von Rimbaud "Bateau ivre", in dem "…eine fiebrige Vision überdehnter, wirbelnder, völlig irrealer Räume" (Hugo Friedrich) geschaffen wird.

Thorsten Encke 2018