Der Komponist Thorsten Encke im Gespräch
Im Jahr 2012 wurde Ihr Orchesterwerk »Ströme« in Kiel uraufgeführt. Nun haben Sie erneut einen Kompositionsauftrag erhalten. Woher rührt Ihre Verbindung zu Kiel?
Georg Fritzsch war mein Vorgänger als Solocellist im Philharmonischen Orchester Gera. Dort haben wir uns kennengelernt, und dort habe ich ihn auch als Dirigenten erlebt.
War der Kompositionsauftrag von vornherein als Cellokonzert formuliert?
Wir hatten zunächst überlegt, ein Violinkonzert zu machen. Nachdem sich die Möglichkeiten dafür zerschlagen hatten, schlug ich vor, ein Cellokonzert zu komponieren. Erstens ist das Cello mein eigenes Instrument. Und zweitens hatte ich schon lange den Wunsch, ein Stück für meinen verehrten Lehrer Lynn Harrell zu schreiben.
War geplant, Lynn Harrell als Solisten zu gewinnen?
Ja, der Plan stand. Leider war es nicht möglich, organisatorisch übereinzukommen. Ich hoffe, dass er das Konzert einmal nachspielen wird, denn es ist ihm gewidmet. Christian Poltéra, den ich gut kenne, ist aber keine Notlösung, sondern ein absoluter Wunschsolist. Er hat genau dieses warme gesangliche Cellotimbre, das mir immer bei der Komposition vorschwebte. Ich freue mich darauf, es mit ihm zu erarbeiten!
Was ist in Ihren Augen die besondere Problemstellung beim Komponieren eines Solokonzertes?
Ich finde, dass das Genre des Solokonzertes in der reizvollen Gegenüberstellung eines Einzelmusikers und eines großen Apparats noch immer sehr viele Möglichkeiten bietet. Natürlich bringt das Ungleichgewicht eine technische Problematik mit sich. Als Komponist muss man klug instrumentieren, so dass der Solist zu hören ist. Teilweise liegt seine Stimme über dem Orchester, teilweise ist sie mitten in den Orchesterklang eingebettet, und mitunter wird der Solist auch von der Klangwucht des Orchesters überwältigt. Das Wetteifern oder Kräftemessen, das dem Begriff des Konzerts innewohnt, gehört aber zur Sache und hat für heutige Komponisten keineswegs an Reiz verloren.
Lassen Sie uns einen Blick in die Komponistenwerkstatt werfen. Wie geht es Ihnen, wenn sie eine neue Komposition in Angriff nehmen?
Es gibt immer, wie Henri Dutilleux einmal sagte, diesen Schrecken vor dem leeren Blatt Papier. Man sitzt davor und weiß um die Arbeit und Zeit, die es braucht, all diese Notenseiten zu füllen. Auf der anderen Seite besteht darin, dass da am Anfang gar nichts ist, und am Ende einer langen Arbeit dann vielleicht ein neues Musikstück in der Welt, ein unglaublich großer Kitzel. Der Prozess ist sehr komplex. Er beginnt auch gar nicht mit tatsächlichen Noten, sondern vielleicht mit Stichworten, mit Skizzen, die auch eine Zeichnung beinhalten können, mit Bildern, die man sich notiert, und er endet beim letzten feinen Artikulationszeichen, das man dann am Schluss in die Partitur setzt.
Nun sind Sie ja nicht der erste Mensch, der ein Cellokonzert komponiert. Ist für Sie die Gattungstradition eine Last oder eher eine Herausforderung?
Für mich ist sie eine schöne Herausforderung. Als Cellist habe ich das ganze Repertoire gespielt, von Carl Philipp Emanuel Bach, Boccherini und Haydn über Schumann, Dvorák, bis hin zu den modernen Werken. Im Rahmen meines Konzertexamens führte ich das Cellokonzert von Lutosławski auf, ein Stück, das mir besonders am Herzen liegt und wegen seines starken dramatischen Impulses vielleicht sogar ein ganz besonderes Vorbild ist.
Das Feld der Neuen Musik ist auf Innovation gepolt. Wie gehen Sie mit diesem Zwang zur Neuheit um?
Von Zwängen versuche ich mich weitestgehend zu befreien. Rilke meinte: "Nichts hindert mich, alles unerschöpflich und unverbraucht zu finden: wovon sollte je Kunst ausgehen, wenn nicht von dieser Freude unendlichen Anbeginns?" Es gibt eine Wahrheit des unbekümmerten Beginnens, obwohl man die kompositorische Tradition mit sich herumträgt. Ich liebe das Experiment, aber es ist für mich kein Selbstzweck. Das wichtigste an einem gelungenen Musikstück ist aus meiner Sicht, dass es eine Geschichte erzählt, die wir so noch nicht gehört haben.
Wie verläuft der weitere Prozess der Komposition, nachdem Sie einen Einstieg gefunden haben?
Der Arbeitsprozess verläuft – gerade bei einer ausgedehnten Komposition – auf verschlungenen Pfaden. Man macht sich am Anfang einen strukturellen Entwurf, einen Bauplan des Stückes, der – wie bereits angedeutet – teilweise gezeichnet, teilweise auch verbal formuliert sein kann. Dieser Plan ist für mich persönlich ganz wichtig, um der Musik ein Gerüst zu verleihen und sie aus dem rein Fragmentarischen herauszuheben. Das Fragment kann auch sehr interessant sein, aber was uns gefangen nimmt, ist meiner Meinung nach vor allen Dingen eine erzählerische Struktur, ein Zusammenhalt. Motivisch-thematisches Arbeiten spielt hier eine große Rolle, ebenso wie die Fähigkeit, auf die Eigendynamik der Komposition zu lauschen. Denn es gibt beim Komponieren immer wieder Momente, in denen der Arbeitsprozess stockt und man ins Zweifeln gerät. Dann muss man im Dickicht die vorgefühlte Abzweigung finden, die im Grunde schon da war, bevor man sie bemerkte.
Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist die Komposition noch nicht abgeschlossen. Sind sie gespannt darauf, wie das Konzert endet?
Ich weiß schon, wie es enden wird, das ist auch schon angelegt. Der Rohbau steht. Das Konzert wird ungefähr 25 Minuten dauern. Es hat drei Abschnitte, die attacca ineinander übergehen und einen großen dramaturgischen Bogen vollziehen. Ich wollte die große Linie suchen vom ersten Ton des Konzertes bis zum letzten. Das Finden eines Schlusses ist beim Komponieren übrigens genauso schwer – wenn nicht sogar ein bisschen schwerer – wie das Anfangen.
Welche Rolle spielt bei Ihrem Komponieren das Publikum? Das hat ja auch seine Bedürfnisse.
Das Publikum hat seine Bedürfnisse, wobei die Bedürfnisse eines jeden einzelnen Zuhörers ganz unterschiedlich sein können. Als Komponist folgt man in erster Linie der eigenen Stimme, jedoch immer mit dem Bewusstsein, dass man ein Stück nicht nur für sich selbst schreibt, sondern für die Menschen. Und deshalb ist es mir ganz wichtig, dass ein Werk in dem Moment des Hörens erfassbar ist. Diese Erfassbarkeit wiederum hängt zusammen mit der Struktur einer Komposition.
Was empfehlen Sie hinsichtlich der Vermittlung gerade auch Neuer Musik?
Ich glaube, man sollte die Häuser öffnen und entstauben, man sollte alles viel durchlässiger machen. Wenn das Publikum die Möglichkeit hätte, in Proben dabei zu sein, den Prozess des Entstehens von Musik zu erleben, dann würde es viel mehr Einblick gewinnen, dann wäre die Musik nicht nur eine nette Abendunterhaltung, sondern würde weiterführen und viel tiefer wirken, würde den Menschen durchdringen, geistig wie emotional.
Ist das ein Appell an den gesellschaftlichen Stellenwert der Musik?
Ich denke, dass Musik im Kern des Menschlichen verankert ist. Ohne Musik ist Menschsein nicht möglich. Und vielleicht hat eine Musik, die sich nicht so leicht vereinnahmen lässt, eine besonders wichtige gesellschaftliche Funktion: die Funktion der Differenzierung des Zuhörens und Empfindens und auch die Funktion des Wachrüttelns. Denn Musik ist ebensosehr eine Sprache des Gefühls wie des Geistes.